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Die Schulzeit meiner Kinder

Meine Tochter war ein aufgewecktes, wissbegieriges Kind – sie hat alles aufgenommen wie ein Schwamm, leichtfüßig, voller Neugier, ohne Hemmschwellen. Meine Tochter hatte Glück in ihrer Grundschulzeit – ihre Lehrkräfte waren zugewandt, fröhlich, selbst voller Ideen – sie flog leichtfüßig durch diese Zeit. Der Wechsel auf das Gymnasium war für sie wie ein Einzug ins große Universum von neuem Wissen, ein Abenteuer – auch dort hatte sie noch zwei gute Jahre, Lehrer mit Flexibilität, die auch spontan auf Ideen ihrer Schüler eingehen konnten, die Interesse an ihren Schüler:innen hatten, ihnen zugewandt waren. Ab Klasse 8 ging es abwärts – meine Tochter wollte wissen, wofür sie die Dinge braucht, die im Lehrplan standen – sie wollte es verstehen. Die Erklärung, dass dies der Schulstoff ist, reicht nicht – wo wende ich das Wissen an, was mache ich damit? Das wollte sie wissen – die Auskünfte waren dürftig – es ging weiter bergab. In einer der Elternsprechstunden habe ich nachgefragt: Seit 3 Jahren gibt es sachliche Textanalyse – wofür? Wo bleibt die Vielfalt im Umgang mit unserer Sprache – wo wird die Schönheit berührt, die Poesie, das Gefühl? Die Antwort lautete wie folgt: „Ich weiß, dass ihr Kind kein Problem damit hat, aber ¾ der Klasse scheitern an einer einfachen Satzanalyse und die muss ich durchbringen!“ Mich hat das sprachlos gemacht! Eine ganze Klasse im Dilemma und im Druck. Warum fragen wir nicht, ob das auch anders geht? Warum bestehen wir auf dem analytischen Zerpflücken eines Satzes, anstatt die Sprache zu leben? Keiner der Jugendlichen hatte Sprachprobleme, wir alle lernen es spielerisch von Kindheit an, warum knechten wir uns so? Und das war nur ein Fach. Meine Tochter wurde depressiv – ich hätte mir gewünscht, dass sie dort rausgeht, einen anderen Weg ausprobiert, aber sie wollte bei ihren Freunden bleiben. Ich konnte nur versuchen, die Verbindung zu ihr zu halten. Es waren diese Jugendlichen, die den Satz nicht analysieren konnten, die meine Tochter gestärkt und mitgetragen haben mit ihrem großen Herz, ihrer Empathie – die sie ermutigt haben, ihr zugehört und sie aufgerichtet haben. Großartige wundervolle Jugendliche!! Ich bin ihnen mein Leben lang dankbar!

Mein Sohn ging bereits in der Grundschulzeit zu Boden – ein hoch empathisches Kind mit dem Wunsch, alles richtig zu machen. Aber was ist richtig? Die erste Lehrerin ging in Rente, es war ihre letzte Klasse und die Kraft war nicht mehr groß – in der ersten Klasse wurde viel geschrien, Angst zog ein. In der zweiten Klasse kam eine zugewandte Lehrkraft, aber sie war „nur Springer“ – damit kann keine Beziehung entstehen! Die Lehrkraft der dritten Klasse war beliebt, fröhlich, verständnisvoll. Sie war weg von einem Tag auf den anderen aufgrund einer schweren Erkrankung – es dauerte, bis die Information überhaupt zu Kindern und Eltern kam. Die Kinder waren in großer Sorge und völlig allein gelassen von Seiten der Schule – kein Auffangen, kein Mut machen – wir haben versucht zu kompensieren. Lehrer sind ungeheuer starke Bezugspersonen für die Kinder, warum wird das so wenig beachtet? Als Antwort der Schule kam ein 3-er Vertretungsteam, bis sich die Hauptvertretung den Arm brach, danach kam Lehrerin Nr. 7 in der 3. Klasse.

Es gab keine einheitliche Lehrmethode – Klasse 1 und 2 wurden ohne Zensuren und mit dem Projekt „freies Schreiben nach Gehör“ ohne jegliche Begleitung und Struktur unterrichtet. Dann kam Klasse 3 und die Benotung fing an. Das brach bei vielen das Selbstvertrauen – zwei Jahre war alles gut und jetzt alles falsch – am Ende der 3. Klasse hatte über die Hälfte der Kinder eine diagnostizierte Lese- und Rechtschreibschwäche – um den Übertritt zu sichern. Was macht das mit den Kindern? Diagnose fehlerhaft? Diagnose Schwäche? Warum? Mein Sohn ging als einziger zur Mittelschule – wir haben das besprochen, alle anderen Schulen hätten ihn zerstört, die Lehrkräfte der Mittelschule bei uns fingen die Kinder auf – sie kannten alle die Brüche. Aber die Mittelschule ist nicht angesehen. Warum eigentlich?

Glauben wir, dass eine Gesellschaft nur mit Abitur funktioniert? Eine Gesellschaft braucht uns alle, wie Puzzleteile, alle sind gleich wichtig! Im ersten Elternabend an der Mittelschule bin ich an einer SteckbriefGalerie der neuen Schüler vorbeigelaufen – es hat geschmerzt! Eine der Frage war: „Was wünscht Du Dir an Deiner neuen Schule?“ – die Antworten, die dort standen: „Ich möchte Freunde finden.“, „Ich möchte kein Versager mehr sein.“, „Ich möchte nicht mehr gemobbt werden.“, „Ich möchte keine Angst mehr haben.“.  Die neue Lehrerin hat ihre Klasse zwei Jahre lang aufgerichtet und ich habe mich bei ihr bedankt – dafür, dass sie mir mein Kind zurückgegeben hat. Mein Sohn konnte wieder lachen, konnte sich wieder annehmen – Freundschaften haben sich gebildet, die bis heute halten – auch nach der Schulzeit noch. Großartige Lehrer!!

Ich habe zwei Kinder – eine Denkerin und einen Praktiker – beide gleich-wertig, beide gleich-würdig. Ich wünsche mir ein Schulsystem, dass die Kinder und Jugendlichen in ihrer Vielfalt und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten wertschätzt und ihnen den Raum gibt, den sie wirklich brauchen!

Mutter

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