»Wenn ich an unsere Kinder denke in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht«, so hätte es wohl Heinrich Heine formuliert, wenn er heute in Deutschland leben würde und seine vier Kinder der »Schulbesuchspflicht« folgend in eine Schule schicken müsste, aus der sie tagtäglich jahrelang und zudem noch während der wichtigsten Phasen ihrer Gehirnreifung und Persönlichkeitsentfaltung missmutig, verängstigt, unglücklich und verstört nach Hause kämen; und den dort erlebten Frust dann erst einmal mithilfe ihrer digitalen Geräte in Chatrooms, Computerspielen und virtuellen Welten abzubauen versuchten.
Ich weiß nicht, wie viele Eltern, aber auch verzweifelte und ausgelaugte Lehrkräfte angesichts der gegenwärtigen Situation in so vielen Schulen noch ruhig schlafen können. Dazu gibt es keine Umfragen, wahrscheinlich deshalb, weil dann allzu offensichtlich und unabweisbar würde, wie groß das Drama ist, das ihre Kinder dort erleben. Als Drama bezeichnen wir eine Theateraufführung immer dann, wenn das Ergebnis einer Handlung noch Auswege zulässt, wenn also noch Hoffnung besteht, dass es im Stück auch noch mögliche andere Ergebnisse als diejenigen gibt, die von den Zuschauern befürchtet werden. Deshalb bin ich froh, dass Margret Rasfeld und Ute Puder den Titel Schuldrama gewählt haben. Wenn ein Geschehen bereits durch die Ausgangskonstellation so sehr fest gelegt wird, dass eine Verstrickung der Helden in immer unlösbarer werdende Konflikte bereits von Anfang an festgelegt ist, handelt es sich um eine Tragödie.
Auch wenn viele besorgte Eltern und Lehrkräfte von diesem Gedanken um den Schlaf gebracht werden, so machen die bei den Autorinnen mit ihrem Buch über das Schuldrama allen Beteiligten Hoffnung: Es ist möglich, doch noch die Kurve zu kriegen. Für unsere heranwachsenden Kinder und Jugendlichen wäre das ein Segen. Denn so, wie es nun schon seit Jahren ist, kann es nicht weitergehen. Wenn Kinder und Jugendliche die ihnen angeborene Freude am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten, also am Lernen, ausgerechnet dort verlieren, wo ihnen Gelegenheit geboten werden soll, alles zu lernen, worauf es später für die Gestaltung ihres Lebens,
eines konstruktiven Zusammenlebens mit anderen, auch mit anderen Lebewesen auf dieser Erde, ankommt, dann ist das nicht nur eine Tragödie, sondern eine Schande für ein ganzes Land. Wenn zu viele junge Menschen mit »null Bock« auf Lernen, auf gemeinsames Gestalten und auf die Suche nach kreativen Lösungen aus der Schule kommen, hat eine solche Gesellschaft keine Zukunft mehr. Manche spüren das, aber viele auch (noch immer) nicht.
Die vielen mehr oder weniger klugen Bücher, die in den vergangenen Jahren erschienen und auch von vielen verzweifelten Erwachsenen gelesen worden sind, haben diese Situation nicht spürbar verändert. Auch nicht die zahlreichen Podcasts, Initiativen und Schulveränderungsprogramme, noch nicht einmal die besorgniserregenden Resultate internationaler Vergleichsuntersuchungen konnten den einmal eingeschlagenen Kurs dieses riesigen und schwerfälligen Tankers »Schulsystem« neu justieren.
Wahrscheinlich – und zumindest aus der Sicht eines Neurobiologen ganz sicher – sind Argumente, auch wenn sie noch so gut begründet werden, nicht geeignet, um Menschen zu veranlassen, notwendige Veränderungen auch wirklich um zusetzen. Da muss wohl, neben den kognitiven Bereichen im Gehirn, auch noch ein Bereich aktiviert werden, der tiefer sitzt und auch in seinen Wirkungen tiefer reicht als der nackte Verstand. Ein Gefühl also, oder so etwas wie eine innere Stimme, die uns unmissverständlich darauf hinweist, dass wir da bei sind, etwas zu tun, was unsere Existenz, also die Entfaltungsmöglichkeiten unserer Kinder, gefährdet. Es müsste uns also wirklich »unter die Haut gehen« und uns tief im Inneren berühren. Margret Rasfeld und Ute Puder haben diese innere Stimme schon lange vernommen. Als sie die erschütternden Briefe Jugendlicher gelesen haben, sind sie an die Öffentlichkeit gegangen. In den Briefen beschreiben Schüler und Schülerinnen eines Gymnasiums, wie es ihnen in der Schule geht, wie leer, wie verzweifelt, wie ohnmächtig sie sich dort fühlen. Und zwar deshalb, weil sie dort – trotz der wohlmeinenden und unterstützenden Begleitung durch manche Lehrkräfte – gewissermaßen systemimmanent ständig belehrt und bewertet und damit wie zu optimierende Objekte behandelt werden.
Das war ihr Gefühl. Sie haben aufgeschrieben, was dieses Gefühl mit ihnen macht und wie sie damit umgehen, auch wie sie es »wegbekommen«. Es sind erschütternde Zeugnisse einer Fehlentwicklung, wohlgemerkt nicht in »Problemschulen«, sondern in »Vorzeigegymnasien«, auch nicht verfasst von »Versagern«, sondern von solchen, die das Gymnasium mit sehr guten Abschlüssen verlassen. »Hier stimmt also et was sehr grundsätzlich nicht«, hatte ihre innere Stimme den beiden Autorinnen gesagt. Und deshalb haben sie dieses Buch geschrieben.
Und damit es keine Tragödie mit unausweichlichem Ausgang wird, haben sie es als Mutmachbuch für alle verfasst, die noch daran glauben, dass Menschen (und nicht künstliche Intelligenzen oder kultusministerielle Vorgaben) für das verantwortlich sind, was in unseren Schulen geschieht. Und dass das, was dort nun schon seit so vielen Jahrzehnten als eingefahrenes Muster wie ein einmal einprogrammierter Automatismus ab läuft, geändert – oder besser: im Inneren verwandelt – werden kann.
Aber lesen Sie selbst. Es ist ein Buch, in dem nicht über die Schule gemeckert, sondern ihr Neubau vom Fundament aus beschrieben wird.
Gerald Hüther
Witzenhausen, im Juli 2024